Verständigungsorientiertes Reiten




 Verständigungsorientiertes Reiten

Verständigungsorientiertes Reiten

Marcello Pocai

Ich verfolge ein Konzept verständigungsorientierten Reitens. Die Grundidee dieses Konzeptes, das weder eine neue Reitweise noch eine alte in neuem Gewand ist, sondern einen Perspektivenwechsel bezeichnet, läßt sich mit vier Sätzen umschreiben. Erstens: Die Einsicht des Pferdes in das, was es tut und in das, was wir verlangen, steht über dem Grundgehorsam der einfachen Ausführung der Lektion. Damit werden auch Spielräume für die Artikulation des eigenen Willens des Pferdes eröffnet, der sich in aller Regel als bloßer Gegenwille zum Willen des als ranghöher sich behauptenden Reiters äußert. Zweitens: Es kommt vor allem darauf an, wie das Pferd eine Lektion ausführt. Drittens: Der grundsätzlich passiv mitschwingende Sitz des Reiters ermöglicht zu unterscheiden, welche Energie vom Pferd kommt und welche der Reiter aufwenden müßte, um das Pferd zu treiben. Konstitutiv für das richtige Treiben ist die Differenz von Schwung und Schwungkraft, von energischer Kraftentfaltung des Pferdes auf die vortreibenden Hilfen des Reiters hin (Schwung), von voluntativ-selbsttätiger Schwungentfaltung und -erhaltung auf seiten des Pferdes bei konstanter Selbsthaltung ohne aktive Hilfeneinwirkung des Reiters (Schwungkraft). Viertens: Ich orientiere mich am Ideal des "Aussetzens der Hilfen". Daraus folgt die Regel: Eine Hilfe zu einer Zeit (in der Reihenfolge Gewicht - Schenkel - Hand). Das "harmonische Zusammenwirken" der Hilfen kommt später. Wenn heutzutage in der Reiterwelt der Aus-druck Verständigung im Zusammenhang mit der Arbeit und Nutzung des Pferdes verwendet wird, dann immer nur in dem Sinne, daß der Reiter sich dem Pferd gegenüber wie ein Lehrmeister einem unmündigen Schüler gegenüber verständlich machen soll. Ziel ist die gehorsame Ausführung der Lektion. Wenn das Tier die Lektion korrekt ausführt, dann - so wird üblicherweise angenommen - hat es die Lektion verstanden. Daß dies in den meisten Fällen nicht der Fall ist, zeigt immer wieder die Praxis. "Verständigung" in dem von mir intendierten Sinne bezeichnet das Ideal, daß Pferd und Reiter über ein Drittes, etwa die gemeinsam ausgeführte Lektion verbunden sind, und nicht nur über eine Fixierung des Pferdes auf den Reiter (wie beim Western-reiten), auch nicht über eine völlige Unter-werfung des Tieres unter den Hilfengehorsam (wie dies, wie unvollkommen auch immer, in der sogenannten "herkömmlichen" oder "klassischen Reiterei" üblich ist).
Im übrigen ist es oft auch gar nicht erwünscht, daß die Pferde "mitdenken", es kommt vor allem darauf an, daß sie "funktionieren". So hat in den letzten Jahren die Suche nach alternativen Reitweisen, Umgangs- und Ausbildungsmethoden zugenommen, die Erfolg in kurzer Zeit versprechen. Nicht von ungefähr haben die "Pferdeflüsterer", die im Kern Westernreiter sind, einen solchen Zulauf. Allen verschiedenen Spielarten der Western-reiterei gemeinsam ist die Orientierung an der Mechanisierung des Pferdes. Was das Pferd betrifft, so läuft die Ausbildung über die ganz zu Anfang der Ausbildung gesetzten kondit-ionierten Reaktionen des Pferdes oder, anders gesagt, über die Vergewisserung bestimmter Grundreaktionen. Damit ist klar, daß so etwas wie die "eigene Persönlichkeit" des Pferdes niemals in den Blick genommen werden kann. Diese Einstellung der Reiterei und den Pferden gegenüber läßt sich gut mit der Antwort eines bekannten Westernreiters illustrieren, der auf die Frage, was er noch in seiner Arbeit realisieren möchte, sagte, er möchte sein Pferd "immer besser bedienen" können. Demgegenüber bin ich an den primären Reaktionen des Pferdes interessiert, nicht an sekundären oder erlernten. Dazu gehört, daß man "das Pferd da abholt, wo es gerade ist" und auf diese Weise den Ausbildungsweg vom Pferd mitbestimmen läßt. Dazu gehört auch, daß es nicht ein eindimensionales "Richtig oder Falsch" gibt: Das Pferd, das auf eine unserer Hilfen reagiert, hat reagiert. Mit dieser Reaktion müssen wir weiterarbeiten - anstatt auf die unerwünschte Reaktion z. B. mit Strafe zu reagieren. Das gilt sowohl für das junge als auch für das gereifte Pferd. Der Unterschied besteht darin, daß das gereifte Pferd insofern immer unabhängiger vom Reiter wird, als es sein Gleichgewicht und seine Haltung relativ selbständig zu erhalten vermag. So stellt es immer höhere Anforderungen an den Reiter. Theoretisch bin ich an einer räumlichen Beschreibung des Verhältnisses von Pferd und Reiter interessiert, sowohl am Boden, beim Führen, in der Freiarbeit und beim Longieren als auch im Sattel. Dort, wo sich die Räume, die sich jeweils um den Leib von Pferd und Reiter bilden, überschneiden, kommen wir mit unseren Pferden wirklich zusammen. Diese These verbindet die beiden Texte "Leibliche Kommunikation und die Kommunikation zwischen Reiter und Pferd" und "Die leiblich-räumliche Struktur des Verhältnisses von Pferd und Reiter".